Wenn Enkelkinder fragen: "Oma/Opa, wie war das mit der Vertreibung?" Wer kann noch antworten? Wie erlebte Frau Margarethe Simon das Kriegsende? Geschichten von der Vertreibung, die wir teils selbst erlebt haben, oder die uns die Eltern und älteren Geschwister erzählten. Ein Augenzeugenbericht von Margarethe Simon über Vorgeschichte und Verlauf der Vertreibung aus Schlegel.

Schon im Jahr 1943 gelangten die ersten Ausgebombten nach Schlegel. Zu uns kam ein altes Ehepaar aus Köln. Im Sommer 1944 kam Frau von Treiden mit ihrem Sohn Thilo. Im Oktober die Familie Eichinger aus der Batschka/Ungarn. Wir hatten nun das Haus gut belegt. Nun rückte der Russe immer näher, das Dorf war überfüllt mit Flüchtlingen.

Am 9. Mai 1945 wurden wir um 4:00 Uhr morgens durch Klopfen geweckt. Es waren 3 Männer von der SS, sie wollten Papa erschießen, weil er als Bürgermeister das Dorf nicht evakuiert hatte. Papa bekam einen Schwächeanfall und die Männer verließen das Haus. Er hatte den Männern erklärt, dass es keinen Zweck habe, das Dorf zu evakuieren, denn die Trecks standen schon im Nachbardorf; sie wollten durch die Tschechei fliehen. Als wir abends schlafen gingen, nahmen wir die Kinder mit in unser Schlafzimmer. Wir legten uns angezogen in die Betten. Um 10:00Uhr wurden wir durch lautes Klopfen aufgeschreckt. Als wir in die kleine Stube kamen, wühlten schon die Russen im Schreibtisch herum. In der Küche saßen viele Soldaten um den Eßtisch. Einige gingen auf Papa zu und wollten ihn erschießen. Ein Russe, der als Gefangener in der Grube arbeitete, trat an die Soldaten heran und sagte: „Simon, guter Mann gewesen.“ Da sackte Papa auf einem Stuhl zuzsammen, ich dachte, er stirbt.

Am 10. Mai, als der erste Trupp abgezogen war, kam unser Zivilrusse und sagte, daß in dieser Nacht Mongolen und Juden durch das Dorf kämen, die Frauen sollten sich alle verstecken. Tausende von Russen zogen bei uns vorbei; sie bewegten sich im Marschtempo und keiner konnte aus der Reihe gehen. Abends bin ich wieder mit den Kindern zur Familie Hanning gegangen. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten(bis November 1945) kamen immer wieder kleine Trupps durch das Dorf; manchmal auch einzelne Soldaten. Wir lebten in ständiger Angst.

Einmal kam ein Russe, ließ Pferd und Wagen auf der Straße stehen, trat bei uns ein, ging ins Schlafzimmer und kam mit zwei vollen Armen Wäsche wieder heraus. Unsere Pelze hatten wir bei unseren Mietern Wittig unter den Dielen versteckt.

Eines Tages fuhren 3 Lastwagen mit Munition auf den Hof. Es waren 5 Offiziere und viele Soldatren dabei. Abends gingen Hilde, Ruth und Maria zur Familie Polten schlafen. Ein Offizier hatte das bemerkt und gesagt, die Mädchen sollten nicht weggehen, es passiere ihnen auf dem Hof nichts, solange sie bei uns seien. Da haben wir das erste Mal seit dem Einzug der Russen nachts die Kleidung ausgezogen und ruhig geschlafen.

Am Pfingstsonntag kamen 2 Russen mit 2 Pferden, gingen zur Kutschremise und holten den Landauer heraus. Dann fagten sie nach dem Kutschgeschirr. Ich zeigte es ihnen und sie nahmen alles mit. Dann spannten sie die Pferde vor den Landauer und fuhren weg.

Am 11. Juni 1945, diesen Tag vergesse ich in meinem Leben nicht, kamen Russen und räumten unseren ganzen Rinderstall bis auf eine Kuh aus. Danach zogen viele Viehtransporte bei uns vorbei. Oft hatten wir den Stall für eine Nacht wieder voller Vieh und auch den Garten; er war eingezäunt, weil wir sonst die Kälber dort frei laufen ließen.

Nun kamen nach und nach Polen. Russen sah man nur noch vereinzelt bis zum November 1945. Bald hieß es, wir müßten die Heimat verlassen. Es war wohl Ende Juli, da sollten wir mit 30 Pfund Gepäck an der Kreuzung sein.

Das wurde wieder abgeblasen. Von dem Tage an mußten wir weiße Armbinden tragen und kein Deutscher durfte nach 10:00 Uhr abends auf der Straße sein. Eines Tages kam ein Pole und sagte: „Nun bin ich hier Verwalter.“ Er hieß wohl Kosakiewicz. Dann erschien Sido mit Frau, er war Ingenieur und wohnte im Haus von Frau Zenker. Beide wohnten in der Konsumstraße. Im Herbst kam Josef, er war Partisan. Nun hatten wir 3 Verwalter. Josef wohnte bei uns. Die Arbeit mußten wir machen. Als wir im Herbst die Kartoffeln ernteten, mußte Papa sie abwiegen und Josef strich die Zloty ein. Wir bekamen nichts davon. Einige Fuder kellerten wir ein.

Oft kamen Leute und bettelten um Nahrung; heimlich versteckte ich am Kreuz Kartoffeln oder Mehl. Dies holten die Leute nachts ab.

Nun näherte sich die erste Vertreibung. In der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1946 pochte es an die Schlafzimmertür.

Fünf Polen standen mit Gewehren vor der Tür und forderten uns auf, aufzustehen und anzuziehen. Beim Gastwirt Steiner sollten wir zum Sammelplatz kommen. Wir zogen uns dick an, in die Taschen steckten wir Brot und Butter. In die Rucksäcke wurde das Nötigste gepackt und auf den Rodelschlitten geladen. Als wir gerade zur Haustür herauskamen, sagte man uns, wir könnten zu Hause bleiben.

Am Vormittag, den 24. Februar 1946, sahen wir mit Schrecken, daß ein langer Treck bei uns vorbeizog, an der Spitze Pfarrer Georg Faber. Bei unserem Kreuz blieb er stehen, nahm den Hut ab und alle beteten das „Vater unser.“ Es sollten an die 800 Schlegeler gewesen sein. Dieser Transport kam nach Ostfriesland. Im April ging der 2. Transport dahin; weil Papa im Krankenhaus lag, brauchten wir nicht mit. Die Familien mußten zusammen bleiben; beim ersten Transport war das nicht der Fall.

Am 3. November kam auch für uns der schwere Gang. Wir sind früh aufgestanden, haben die Betten zusammengerollt und in Säcke gesteckt. Der Reisdekorb und der große Koffer standen schon bereit. Von unseren Polen haben wir an diesem Morgen keinen gesehen, dafür kamen 6 Polen mit Maschinengewehren und warfen uns raus. Als sie unser Gepäck sahen, sagten sie, einiges davon müsse dableiben. Im Hof stand der Wagen und wir luden unsere Habseligkeiten auf. Inzwischen kamen andere Schlegeler, begleitet von Polen, bei uns vorbei und wir mußten uns ihnen anschließen. Es war ein schmerzlicher Abschied, denn wir hatten die Gewißheit, daß wir die Heimat für immer verließen. Bei diesem Transport, es war der größte, waren wir an die 900 Schlegeler. Nur Bergarbeiter durften in Schlegel bleiben. Aber viele Bergarbeiterkinder schlossen sich den Transporten an, weil sie unter Polen nicht leben wollten. Als wir zu Fuß in Glatz ankamen, war die frühere Molktekaserne für uns der Sammelplatz. Weil alles überfüllt war, kampierten wir die Nacht vom 3. zum 4. November im Freien. Morgens mußten wir uns zur Kontrolle anstellen. Kurz davor bekam Papa einen Herzanfall. Bei der Kontrolle wurden wir aufgefordert, alle Wertgegenstände und Schmucksachen abzuliefern. Wir hatten nur Papas Uhr. Jetzt wurden alle Gepäckstücke durchsucht. Mein gutes Besteck nahmen sie weg, aber ich habe fast alles wieder in den Koffer getan.

Dann nahmen sie das Kreuz, ich hatte es zu meinem 21. Geburtstag bekommen. Da habe ich zu ihnen gesagt:“Das Kreuz ist geweiht“; ich habe es ihnen einfach weggenommen und in den Koffer gelegt. Als wir registriert waren, gingen wir zum Hauptbahnhof, der etwa 1,5 km außerhalb der Stadt lag. An unseren großen Koffern und Reisekorb hatten wir uns Holzräder anbringen lassen und eine Deichsel. So zogen wir also mit Rucksack,Taschen und dem anderen Gepäckmühsam zum Verladebahnhof. Wir wurden in Güterwagen verfrachtet. Wir waren 36 Personen in dem Waggon, vom Baby bis zum Greis. Am Abend des 4. November ging nun die Fahrt in eine ungewisse Zukunft, keiner wußte wohin. Nach 1,5 Tagen Fahrt hielt der Zug auf freier Strecke und wir durften uns die Füße vertreten. Als wir in die Lausitz kamen, wurden die Polen abgelöst. In Forst wurden wir entlaust und von Kopf bis Fuß gepudert. Es war so deprimierend für uns, daß wir uns das Weinen verkneifen mußten. Jetzt ging es weiter in russischer Begleitung; so kamen wir am 7. November 1946 in Köthen an. Hier wurden wir in ein Barackenlager eingewiesen.

Nun waren wir in der russischen Zone, wie man damals sagte. Am 13. November 1946 mußten wir früh um 6:00 Uhr zum weiteren Transport am Bahnhof sein. Der Zug stand schon da. Am späten Nachmittag fuhr er ab und wir kamen in der Finsternis in Jeßnitz an. Hier lagen wir bis zum 23. Dezember in einem Gasthaus. Es war schwer, uns unterzubringen, denn wir waren 5 Personen und niemand wollte uns haben. An diesem 23. Dezember kamen wir in das Haus zu Baer und bekamen ein Zimmer, die Küche mußten wir uns mit 2 Frauen teilen. Diese Frauen hatten je ein Zimmer und gingen arbeiten. Für uns begann die Hungerzeit.

aus: Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/46. Vom Kriegsende bis zur Vertreibung, hrsg. v.d. Zentralstelle Grafschaft Glatz/Schlesien e.V., Lüdenscheid 1990, S.227-230; Beitrag überarbeitet.

Den Beitrag habe ich von Dr. Horst Stephan in loser Papierform erhalten und abgeschrieben, die alte Rechtschreibung übernommen.

Ihr Horst Gebauer