Die 89-jährige Schwester Herta von Klaus Seipel rief ihn am 9. Mai 2019 aufgeregt an:

„Weißt du noch, was am 8. Mai vor 74 Jahren war und was wir in Schlegel an dem Tag gemacht haben?“ Klaus Seipel wusste nur zu genau, was dort passiert war und erzählt es uns: Als Kind wuchs ich auf einer Landwirtschaft im Oberdorf in Schlegel auf.

Landwirtschaft der Familie Seipel

Kriegsende, viele Ereignisse, als Sechjähriger wusste ich nicht viel, aber von einigen Erlebnissen möchte ich euch gern berichten. Herta ist mit ihrer Freundin Alice Denzin, geb. Winkler und vielen Schlegelern auf den Kärchlabarg(Kirchberg) gelaufen; dort wurde eine Messe in der Kapelle zum Kriegsende gehalten und die Glocken zum erhofften Frieden geläutet. Die Feude über das Kriegsende war am nächsten Tag, als die Russen einmarschierten, schon bald vorbei. Ich, der kleine Zwerg, saß auf einem Ackerwagen auf unserem Hof und ich habe die großen Panzer und die vielen Panjewagen mit den schönen kleinen Pferden bestaunt. Die Russen haben uns Kinder auf die Panzer gesetzt und es gab auch Schokolade; also für uns Kinder waren sie keine Feinde.

Als die Russen nach einigen Tagen abgezogen waren, kamen die Polen und der Frieden war beendet. Zum Teil wohl auch berechtigt, was die Nazis in Polen und in der halben Welt alles angerichtet hatten. Es gibt nach über 70 Jahren immer wieder Ereignisse, die wie ein Film bei mir ablaufen und die ich bis heute nicht ohne Emotionen erzählen kann. Ein Ereignis war der 8. Juni 1945 an meinem 7. Geburtstag, als alle Kühe an unserem Hof in Richtung Ebersdorf vorbeigetrieben und irgendwo verladen oder geschlachtet wurden. Eine von unseren Kühen kam an unsere Stalltür, unser Onkel hatte sie reingelassen, ein polnischer Treiber hatte das gesehen und sie sofort wieder aus dem Stall geholt. Eine Kuh und einen Ochsen durfte jeder Bauer behalten, aber dabei hat er unseren Ochsen, meinen besten Freund, den Heinze, auch noch aus dem Stall gejagt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so geschrien und geweint wie an diesem Tag.

Das 2. Ereignis: Unsere Mutter wird am 4. Dezembern 1945 von der polnischen Miliz nach Eckersdorf ins Gefängnis gebracht.

Ein weiterer Bericht von Alice Denzin, die zum damaligen Zeitpunkt mit 15 Jahren, auf dem Nachbarhof von Familie Seipel arbeitete.

Viele kleine Begebenheiten könnte ich erzählen. Eine, die mich und die Seipel`s bis heute noch bewegt, möchte ich aufschreiben: Es war um die Zeit von Nikolaus. Mein Pflichtjahr hatte ich auf dem Hof von Frau Kintscher von 1944 bis 1945 absolviert. Als sich die Polen bei Frau Kintscher reingesetzt hatten, musste ich dort weiterarbeiten. So habe ich noch immer das Bild vor Augen: Auf dem Hof von Seipels war ein fürchterlicher Aufstand. Ich lief über die Brücke und sah ein Pferdegespann, auf dem Frau Seipel stand und wie Johanna auf dem Scheiterhaufen gestikulierte. Alle vier Kinder, Herta 15, Eleonore 12, Klaus 7 und die kleine Ingrid 4 Jahre alt, schrien laut und rannten ein Stück hinterher! Einfach schrecklich! Die Miliz hatte Frau Seipel abgeholt. Der Vater war noch vermisst. Herta erzählte mir, die Polen hätten behauptet, Frau Seipel habe die Lederriemen von der Dreschmaschine gestohlen. Deshalb wurde sie nach Eckersdorf hinter vergitterte Fenster gebracht. Diese polnische Milizstation zieht uns noch immer magisch an, besonder den Klaus: Mama hinter Gittern.

Klaus Seipel mit seiner Schwester Herta vor dem vergitterten Fenster
des Raumes, in dem seine Mutter eingesperrt war. Rechts der Eckersdorfer Schlossbereich mit dem früheren Gemeindehaus, in das 1946 die polnische Miliz einzog und die Mutter einsperrte.